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Gemälde: Waltraud Gossel (Ausschnitt)
Musik duftet – Sprache leuchtet
Hans-Peter Schwöbel
Meine beiden letzten Der Schwöbel-Blog am Samstag vom 10. und 17. August sind einem Missverstehen gewidmet, das besondere Früchte trägt. Ausgang war eine Zeile aus dem Abendlied von Matthias Claudius und deren Verwandlung durch poetisches Verhören.
Natürlich können Sie das Abendlied mit wenigen Klicken im Internet selbst finden. Ich möchte Ihnen den Text aber präsentieren, mit dem Wunsch, Einiges hinzuzufügen, was die exemplarische Poesie dieses hohen Lichtes (Highlight) abendländischer Literatur ausmacht. Auch wer die kindlich-innige Frömmigkeit des Matthias Claudius nicht teilen kann, wird in der Tiefe seiner Seele ergriffen.
Abendlied
Matthias Claudius (1740 – 1815)
Der Mond ist aufgegangen
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar:
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weisse Nebel wunderbar.
Wie ist die Welt so stille, Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.
Wir stolzen Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder,
Und wissen gar nicht viel;
Wir spinnen Luftgespinste,
Und suchen viele Künste,
Und kommen weiter von dem Ziel.
Gott, lass uns dein Heil schauen,
Auf nichts Vergänglichs trauen,
Nicht Eitelkeit uns freun!
Lass uns einfältig werden,
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich sein!
Wollst endlich sonder Grämen
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod,
Und wenn du uns genommen,
Lass uns in Himmel kommen,
Du lieber treuer frommer Gott!
So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder!
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon’ uns Gott mit Strafen,
Und lass uns ruhig schlafen,
Und unsern kranken Nachbar auch!
„Literatur ist immer ein Versuch, ein Bemühen um schöpferischen und handwerklich-kopfwerklich hochwertigen Umgang mit Wissen: Wahrnehmen, Erinnern, Erwarten, Erfahren, Wünschen, Vorstellen, Fürchten, Hoffen, Denken. Ein Gedicht ist ein vollkommenes Fragment.
Wenn Kunst gelingt, entsteht Poesie. Unter Poesie verstehe ich keine Literaturgattung, sondern einen Komplex von Eigenschaften, die Bildnisse, Sprache, Musik, Film, Tanz, soziale Arrangements, Speisen... aufweisen können. Poesie: luzide, dicht, vibrierend, sehr exakt, leicht, sinnlich, löst Assoziationen aus. Poesie ist ein Gewebe aus Kraft, Kreativität, Zärtlichkeit und Strenge in hoher handwerklich-technischer Qualität. Poesie kann ein warmes, dunkles Medium sein und scharf und hell, wie ein Skalpell.“ (1)
Nicht so sehr weil wir es bei diesem Lied mit Lyrik zu tun haben, klingt und leuchtet, duftet und schwingt hier Poesie, sondern weil es all unsere Sinne erreicht, und weil es die Eigenschaften aufweist, die ich hier beschrieben habe.
(1) Aus: Ein Gedicht ist ein vollkommenes Fragment. In: Hans-Peter Schwöbel: Kinder des Wortes. Essays. Feuerbaum-Verlag. Mannheim, 2009. Seite 200.
Der Schwöbel-Blog am Samstag, 24. August 2024