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Skulpturen: Hartmut Gossel
Fotos: Hans-Peter Schwöbel
Impressionen und Gedanken zu den Stuhl-Skulpturen von Hartmut Gossel.
Eine kleine Kulturtheorie des Stuhls.
Es sind diese beiden Adjektive, die mir zuerst einfallen, wenn ich die Stuhlskulpturen von Hartmut Gossel auf mich wirken lasse: Das aus dem Lateinischen kommende Wort humanoid bedeutet menschenähnlich, menschlich. Das aus dem Griechischen kommende Wort anthropomorph bedeutet ebenfalls menschenähnlich, besonders im Sinne von menschengestaltig. Es weist also auf Strukturähnlichkeiten zwischen Mensch und Stuhl hin.
Dieses Menschengestaltige springt beim alltäglichen Gebrauchsstuhl ins Auge. Man kann den Stuhl als eine Hohlform des Menschen in einer bestimmten Stellung verstehen. Als sei der Mensch in diese Form gegossen worden. Natürlich ist es umgekehrt: Der Stuhl ist den Maßen des Menschen angepasst. Er bildet dessen Größe, Skelett und Muskulatur ab. Die Sitzfläche ist in unseren Breiten irgendwo zwischen 40 und 60 cm Höhe angebracht. Auf diesem Standardstuhl können Menschen zwischen ca. 1,50 und 2 Metern Größe sitzen. Die Kleinen werden vielleicht mit den Zehen ein wenig nach dem Boden tasten, die 2-Meter-Leute Mühe haben, ihre Beine unterzubringen. Aber für wohl 90% der Erwachsenen in unseren Breiten passt der Standardstuhl so gut, dass sie stundenlang darauf sitzen können.
In der menschlichen Zivilisation ist der Stuhl eine recht späte Entwicklung. Etwa im Zweiten Jahrtausend vor Christus finden wir in Ägypten Throne, auf denen die Pharaonen sich selbst erhöhten. Die arbeitenden Menschen in Ägypten kannten zur gleichen Zeit schon so etwas wie Schemel oder Hocker, die ihnen bestimmte Arbeiten erleichterten. Generell aber gilt wohl, dass bis vor wenigen Jahrhunderten, die Nicht-Stuhl-Kulturen weiter verbreitet waren als die Stuhl-Kulturen. Ich habe in Ost-Afrika, in West-Afrika und im Iran gearbeitet und geforscht und dabei Regionen besucht, in denen nicht nur weit und breit kein Stuhl zu sehen war. Viele Menschen hätten sich einen Stuhl gar nicht vorstellen können. Das hat sich angesichts der neuen Medien und der Völkerwanderungen inzwischen natürlich geändert.
Die nördlichen, genauer gesagt westlichen Industriestaaten haben sich in den letzten 250 Jahren besonders zielstrebig aus Agrar- in Industriegesellschaften und nach dem Zweiten Weltkrieg in Dienstleistungs-, Informations- und Wissensgesellschaften verwandelt. Die meisten Arbeitsfunktionen in den Agrar- und Industriegesellschaften wurden stehend oder gehend ausgeübt.
Sesselfurzer?
Noch weit in die Nachkriegszeit wurde sitzenden Tätigkeiten mit einer gewissen Geringschätzung begegnet. Es gab den entsprechenden Schmähbegriff: Sesselfurzer. Auch ich habe als junger KfZ-Mechaniker und zeitweiliger Hafenarbeiter geglaubt, administrative Tätigkeiten seien weit von dem entfernt, was wir mit Begriffen wie arbeiten und schaffen verbinden. Wertschöpfung fanden wir, findet durch körperliche Arbeit statt – Bürojobs erschienen uns eher parasitär.
Demgegenüber kann ich heute als Soziologe sagen, dass der Beitrag sitzender Tätigkeiten - und damit des Stuhls - zum Produktivitätswachstum, zur Verlängerung der Lebenserwartung und Steigerung der Lebensqualität in modernen Gesellschaften nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Der Stuhl erweist sich als multifunktionales Instrument. Auf ihm zu sitzen, entlastet Skelett und Muskulatur. Menschen können viel länger sitzen als stehen und dabei auch länger konzentriert arbeiten. Gerade, dass der Stuhl ein Allzweckwerkzeug ist, auf dem wir arbeiten, speisen, uns ausruhen und ausdauernd kommunizieren können, hat dazu geführt, dass wir ihn übersehen. Der Stuhl ist allgegenwärtig wie ein treuer Diener, der immer so prompt zur Stelle ist, dass er quasi verschwindet. Man könnte unseren Umgang mit Stühlen undankbar nennen.
Hartmut Gossels Skulpturen schaffen es, den Mangel an Aufmerksamkeit und Dankbarkeit in Frage zu stellen. Alleine die Überwindung eines tief verankerten Desinteresses an etwas Kostbarem, das wir selbst hervorbringen, ist eine bemerkenswerte künstlerische Leistung. Die meisten Menschen sitzen abertausende von Stunden auf Stühlen, ohne ihnen auch nur das geringste Interesse entgegenzubringen. Umso höher ist zu bewerten, wenn einer aus dieser Gedankenlosigkeit heraustritt, um das Wunderbare im Selbstverständlichen sichtbar zu machen.
Hartmut Gossel
Der Schwöbel-BLOG am Samstag, 01.04.2023