Jetzt als Podcast anhören:
Geschichtsbild 1
Foto: Hans-Peter Schwöbel
In diesen disruptiven Zeiten höre ich immer wieder die Klage, die Menschheit sei unfähig, aus der Geschichte zu lernen. Dazu sage ich: Die Menschheit kann aus der Geschichte nichts lernen, weil sie kein verantwortungsfähiges, lernendes Subjekt ist, sondern eine Abstraktion.
Dies ist keine Haarspalterei. Es hilft gegen Verzweiflung, nicht auf Dinge zu warten, die nicht eintreten können. Konkrete Menschen können aus der Geschichte lernen. Ebenso können beschreibbare Kollektive von Menschen und ganze Kulturen auf dem Wege der Kommunikation aus ihrer/unserer Geschichte lernen. Und sie tun dies auch.
Hinzu kommt: Mehr noch als anderes Lernen ist Lernen aus der Geschichte mit Unschärfen, Verzerrungen und irreführenden Spiegelungen belastet, die auch aufrichtig die Wahrheit suchende Geschichtswissenschaft nicht vollständig überwinden kann. Und das allgemeine individuelle und kollektive Lernen ohnehin nicht. Jedermann bleibt aufgefordert, seinen Kenntnisstand bei konkreten Themen zu verbessern, ohne der Illusion zu erliegen, dem grundlegenden Irrtumsrisiko menschlichen Erkennens zu entgehen. Wichtigstes Korrektiv ist Kritik. Unkritische Wissenschaft ist keine Wissenschaft. Und wer kritische Kommentare aus der öffentlichen Debatte verbannt, schadet der Demokratie in ihrem Innersten. Es gibt Einsichten, die anders als auf dem Wege der Kritik nicht ins individuelle und kollektive Bewusstsein gelangen können.
Frieden lernen
Der große Soziologe Norbert Elias hat in seinem Hauptwerk Über den Prozess der Zivilisation herausgearbeitet, dass zivilisatorische Entwicklungen schon über Jahrhunderte mit Abnahme von Gewalt einhergehen. Dies gilt besonders, wenn man Gewaltgeschehen auf die Größe der Bevölkerung und der Besiedlungsdichte bezieht. Inzwischen leben 8 Milliarden Menschen auf der Welt (1800: 1 Milliarde, 1950: 2,5 Milliarden). Mit der Gewalt früherer Epochen würde heute weltweit sehr viel mehr Blut fließen als es tatsächlich der Fall ist.
Menschen können aus der Geschichte lernen und die Chancen zum Frieden verbessern.
Reduktion von Gewalt gehört zu jenen zentralen Kennwerten, an denen wir zivilisatorisches Gelingen prüfen können. Der 75-jährige Friede in Europa beruhte auf individuellen und kollektiven Lernprozessen, nicht zuletzt in Deutschland. Dabei denke ich an die deutsch-französische Aussöhnung, die ein Beispiel bot für andere Völkerversöhnungen, die folgen sollten. Ich denke an Willy Brandts Kniefall in Warschau. Ich denke an die Deutsch-Israelischen Beziehungen. Ebenso an die Buß- und Versöhnungsarbeit von Millionen Deutscher und anderer, die bereit waren und sind, nach 1945 eine weitgehend stille (vielleicht deshalb erfolgreiche) Kulturrevolution zu tragen, die unsere Gesellschaften verändert haben. Zum Besseren.
Der Schwöbel-BLOG am Samstag, 18.02.2023