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Foto: Hans-Peter Schwöbel
"Sagt Mutter, ´s ist Uwe!"
Nils Randers
Ernst Otto
Krachen und Heulen und berstende Nacht,
Dunkel und Flammen in rasender Jagd -
ein Schrei durch die Brandung!
Und brennt der Himmel, so sieht man´s gut:
Ein Wrack auf der Sandbank! Noch wiegt es die Flut;
gleich holt sich´s der Abgrund.
Nils Randers lugt - und ohne Hast
spricht er: "Da hängt noch ein Mann im Mast;
wir müssen ihn holen!"
Da fasst ihn die Mutter: "Du steigst mir nicht ein;
dich will ich behalten, du bliebst mir allein,
ich wills, deine Mutter!
Dein Vater ging unter und Momme, mein Sohn;
drei Jahre verschollen ist Uwe schon,
mein Uwe, mein Uwe!"
Nils tritt auf die Brücke. Die Mutter ihm nach.
Er weist nach dem Wrack und spricht gemach:
"Und seine Mutter?"
Nun springt er ins Boot und mit ihm noch sechs:
hohes, hartes Friesengewächs;
schon sausen die Ruder.
Boot oben, Boot unten, ein Höllentanz!
Nun muss es zerschmettern! Nein, es blieb ganz!
Wie lange! Wie lange!
Mit feurigen Geißeln peitscht das Meer
die menschenfressenden Rosse daher;
sie schnauben und schäumen.
Wie hechelnde Hast sie zusammenzwingt!
Eins auf den Nacken des andern springt
mit stampfenden Hufen!
Drei Wetter zusammen! Nun brennt die Welt!
Was da? Ein Boot, das landwärts hält!
Sie sind es! Sie kommen!
Und Auge und Ohr ins Dunkel gespannt.
Still - ruft da nicht einer? Er schreit´s durch die Hand:
"Sagt Mutter, ´s ist Uwe!"
Meine Mutter hat mich früh mit Gedichten in Berührung gebracht – Hochdeutsch und Mundart. Noch heute habe ich ein Schulbuch von ihr im Regal stehen aus dem Jahre 1927: Gedichtsammlung, Herausgegeben von Dr. Edmund von Sallwürk. 400 Seiten wunderbarer Gedichte, von denen heute kaum noch eines den Weg in ein Schulbuch finden würde. Davor schützt die „Political correctness“. Und die Angst, man könnte Lernende mit komplexer, nicht-alltäglicher Sprache überfordern.
Dieser Sammlung habe ich „Nils Randers“ entnommen. Gedichte dieser Art konnte ich als Kind im Dutzend auswendig. Als Zwölfjähriger trug ich zum Beispiel „Des Sängers Fluch“ von Ludwig Uhland in der Waldschule, Mannheim-Gartenstadt, vor. Als ich fertig war, sagte unser Lehrer Rudi Walz, ein nüchterner und strenger Mann: „Hans-Peter, ich habe Gänsehaut! Noch nie habe ich ein Gedicht so gehört.“
Wer Deutsch nur als System zur Verständigung kennenlernt, sei es als Kind oder im Unterricht „Deutsch für Ausländer“, wird die Schönheit dieser Sprache nie schätzen und lieben lernen. Und: Man kann Menschen nicht fördern, ohne sie zu fordern. Wie sonst soll ein Mensch seine Grenzen kennen lernen und den Willen entwickeln, sie zu überwinden? Ich habe in meinem Leben schwierige Aufgaben bewältigt, vor denen manch schlaflose Nacht lag. Das Gefühl der Überforderung konnte ich nicht wegzaubern. Ich musste es mit Leistung überwinden. Wie kann man Menschen solch kostbare Erlebnisse vorenthalten? Absenken von Leistungserwartungen schwächt die Starken, ohne die Schwachen zu stärken.
Meine Frau hat als Lehrerin (ebenfalls in der Waldschule) das Problem, schwächere Schüler einzubeziehen und ihr Vermögen zu steigern, gelöst, indem sie mit ihrer Klasse über Monate Programme mit Gedichten in Hochdeutsch und im Mannheimer Dialekt erarbeitete, die auf Schulfesten vorgetragen wurden. Alle Schüler waren einbezogen. Auch scheinbar weniger Begabte hatten das beglückende Erlebnis, über sich hinauszuwachsen. Eltern waren ebenso erfreut und bekundeten meiner Frau, dass sie bis dato keine Ahnung gehabt hatten, was ihr Kind alles kann.
Der Schwöbel-BLOG am Samstag, 11.02.2023