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Foto: Hans-Peter Schwöbel
Denkend überschreiten
Überschreitend denken
Immanuel Kant ist vielleicht der bekannteste, aber nicht der einzige Denker, der gerne beim Gehen dachte. Gehen, Laufen und Denken sind Bewegungen, die einander beflügeln können. Auf einem Spaziergang können Verstehen und Poesie gedeihen. Erinnern und Erwarten. Aufarbeiten. Pläne schmieden.
Der Körper bewegt den Geist. Der Geist bewegt den Körper.
Danken - Denken
Denken und Danken wachsen in den germanischen Sprachen aus derselben Sprachwurzel. Wenn ich jemandem danke, sage ich ihm, ich denke an Dich. Ich werde nicht vergessen, was Du mir Gutes getan hast.
Zeit-Bojen im Meer der RaumZeit
Zeit und Raum bilden einen unendlichen Ozean – die RaumZeit. Weil der Mensch im Uferlosen nicht leben kann, schafft er künstliche Markierungen: Millimeter, Zentimeter, Meter, Kilometer, Meilen. Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre. Geburtstage, Gedenktage, Feiertage. Kulturen unterscheiden und finden sich an ihren großen Zeit-Bojen im Meer der RaumZeit: Weihnachten, Chanukka, Jom Kippur, Purim, Fasnacht, Pessach, Ostern, Pfingsten, Silvester, Neujahr, Rosch ha Schana... um nur einige aus unserem jüdisch-christlichen Universum zu nennen. Diese Markierungen sind keine „Einbildung“, sondern die eigentliche Lebenswelt des Menschen: Kultur.
Besonders Silvester empfinden viele als reale Schwelle. Wenn wir nachts um zwölf die imaginäre Grenze überschreiten, kommen wir im Neuen Jahr an wie in einem neuen Land. Natürlich ist das eine Illusion. Mutter Erde, die arm Krott, ist im neuen Jahr dieselbe wie im alten. Und wir sind dieselben – der alte Adam, die alte Eva - krummes Holz (Immanuel Kant), wie eh und je.
Denken heißt überschreiten: Transzendenz
Nun der Satz, der mich auf diesen Denk-Gang gelockt hat: Der große jüdische Philosoph aus unserer geliebten Schwesterstadt Ludwigshafen, Ernst Bloch, sagt: Denken heißt überschreiten. So steht es in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung und auf seinem Grabstein in Tübingen. Was überschreiten? Gewohnheiten, Gewissheiten, Vorurteile. Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit, Dummheit, Angst. Das Hier und Jetzt.
Aber wir brauchen in der unendlichen RaumZeit auch Gewohnheiten, Regeln, Horizonte und Bequemlichkeiten. Sonst gehen wir unter. Wer glaubt, er könne sich und die Welt jeden Tag neu erfinden, überschätzt sich gewaltig.
Danke für Ihre, für Eure Treue. Im neuen Jahr werden wir uns wieder sehen, wieder lesen, einander aufrichten und begleiten. Bleiben wir neugierig. Wir dürfen Denken und Danken, Lieben und Lachen nicht verlernen. Glück und Segen für 2023.
Nur Mut.
Susanna Martinez und Hans-Peter Schwöbel
Der Schwöbel-BLOG am Samstag, 31.12.2022