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Susanna und Hans-Peter Foto: Ingeborg Schwöbel
Samstag, 25. August 1962. Eine Clique von jungen Leuten genehmigte sich einen Theaterabend mit dem historischen Ritterspiel Heinrich von Kleists Das Käthchen von Heilbronn. Tatort: Freilichtbühne Mannheim-Gartenstadt. Dass ich dabei war, war eher Zufall. Meine samstäglichen Saufkumpel waren in Urlaub oder anderweilig unterwegs. Eher der Not gehorchend, schloss ich mich der Bildungsinitiative an. Vermutlich war es mein erster Theaterbesuch.
In meiner frommen Familie, die gleichzeitig als „schlagende Verbindung“ tätig war, galten Theater, Kino, Schlager, Fasnacht und vieles Andere als „weltliche“ Dinge, die man nicht mal ignorieren durfte. Meine Saufzüge mit Kumpeln waren auch Fluchten aus dem Glaubens- und Prügelregiment meines Vaters.
Das Käthchen von Heilbronn auf der Freilichtbühne. Mein Kunstinteresse ließ zu, dabei das eine oder andere Bier aus der Flasche (mit Bügelverschluss) zu heben. Neben mir saß Gertrud Kramer, die mir sehr gefiel. Ich machte die Probe aufs Exempel und bot ihr einen Schluck aus meiner Flasche. Und siehe da: sie nahm das proletarische Angebot an. Ich schwebte im 7. Himmel. Ich selbst kann nur mit jemandem aus der selben Flasche trinken, den oder die ich sehr mag. Mit der ich mir auch andere schöne Dinge vorstellen kann. Und so verstand ich Gertruds Geste als Einwilligung über den Durst hinaus. Auf dem Heimweg vom Käthchen gaben wir uns direkt beim Saustall, der damals noch die „Prärie“ zwischen der Waldstraße und dem Speckweg optisch und olfaktorisch schmückte, das Ja-Wort.
Gertrud gefiel ihr Vorname nie. Eines Tages entschied sie, den zweiten Vornamen ihrer geliebten Großmutter, Susanna, als ihren anzunehmen und den Familiennamen ihres puertoricanischen Vaters, Ismael Martinez, als zweiten Zunamen. Jetzt heißt sie Susanna Martinez und Susanna Schwöbel. Beides im Pass eingetragen.
Sechzig Jahre und zwei Tage später können wir sagen: Wir haben den Schluck aus der gemeinsamen Flasche nicht bereut. Von Beginn an stand uns der Wind in den Mühen der Ebenen stramm entgegen: Schule und Studium bewältigten wir ohne familiäre und mit sehr geringer staatlicher Unterstützung. Wir finanzierten Schule und Studium mit eigener Hände und Köpfe Arbeit. Zeitweise unterrichteten wir 20 Nachhilfe-Schüler. Susanna bediente in einer Wirtschaft auf dem Speckweg. Zeitweise lebten wir im Slum. Menschen, denen es besser ging, gönnten wir dies ohne Neid.
In den neunzehnhundertsechziger Jahren bediente Susanna Schwöbel im AMSTERDAM auf dem Speckweg.
Ich verdiente ein paar Groschen als Statist am Nationaltheater Mannheim und ganz ordentlich Geld als Tagelöhner im Mannheimer Hafen, als Auto- und Bauschlosser und als Bierfahrer für die Guntrum-Bräu in Mannheim-Wallstadt. Letztere Arbeit gefiel mir am Besten.
Susanna Martinez inspiriert mich, berät und ermutigt mich, hilft mir denken und arbeiten, hält für uns die Augen offen. Und sie ist unsere „Barfußärztin“, wenn wir der Pflege bedürfen.
Seit 60 Jahren. Und zwei Tagen.
Der Schwöbel-BLOG am Samstag, 27. August 2022