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Ein promovierter Physiker hat mir einmal alles Gute zum Geburtstag gewünscht aber gleich hinzugefügt, sich gegenseitig etwas zu wünschen, sei ein Akt der Magie, des Aberglaubens; denn Wünsche wirken nicht. Zu seiner Überraschung gab ich ihm Recht, wenn auch anders, als er erwartet hatte.
Gute Wünsche steigen auf aus unserem magischen Bewusstsein - wie Musik, Kunst, Poesie, Sonnenuntergänge und Vieles mehr. Ohne magisches, interpretierendes, transzendierendes Bewusstsein kein Sonnenuntergang als bezaubernde Wirklichkeit für uns Menschen. Der physische „Untergang“ der Sonne (sie geht ja nicht unter – wohin auch...) ist bedeutungslos, im Unterschied zu dem beseelten Erlebnis Sonnenuntergang. Im magischen Bewusstsein entsteht die Welt als Zauber, Glaube und Geheimnis, wie wir’s als kleines Kind erfahren, wo Zeit, Raum und physikalische Gesetze keine Rolle spielen. Dort gibt es Welten, in denen bucklige Rösslein sprechen können und Tiere, Pflanzen, Engel, Gott und Götter, Feen und Kobolde, Hexen und Elwetritsche, Hobbits und Zauberer mit uns durchs Universum reisen. Im magischen Bewusstsein herrscht Phantasie nicht Empirie. Wünsche bewirken alles, die Schwerkraft nichts. Also doch Humbug?
Nein! Magisches Bewusstsein ist die Mutter aller Geisteszustände, allen Denkens, Wissens, Fühlens und Wollens. Glaube, aber auch Philosophie, Wissenschaft, Kunst, Sprache und Alltagsbewusstsein sind Kinder und Kindes-Kinder magischen Bewusstseins. Sie tragen das Erbe ihrer Mutter in sich. Mit dem magischen Bewusstsein emanzipieren wir uns aus dem Tierreich. Transzendieren als phantastiebeflügeltes Überschreiten des Hier und Jetzt ist Teil der Jahrtausende währenden täglichen Menschwerdung. Und insofern äußerst wirksam.
„Mit den magischen, phantasierenden Erfahrungen unserer Kindheit entstehen Grundmuster von Sprache, Schrift, Musik, Glaube, Empfinden, Wissen und Wissenschaft, ohne die alles bedeutungslos bleibt. Frühkindliches Bewusstsein ist magisch. Erziehung, Sozialisation und die Neugier des Kindes entscheiden darüber, wie dieser Bedeutungshorizont gefüllt wird mit Raum-Zeit-Beziehungen, Licht, Schatten, Gerüchen, Geräuschen, Rhythmen, Farben, Strukturen, Menschenbildern, Erinnerungen und Erwartungen, Ängsten und Sehnsüchten - und damit über Vielschichtigkeit, Tiefe und Verzweigungen unserer Seins- und Erlebnismöglichkeiten. Offenkundig kommt Literatur (Märchen, Erzählungen, Geschichten) dabei überragende Bedeutung zu. Die schönen und schmerzlichen Mühen geistig-seelischer Entfaltung als individuelle Persönlichkeitsentwicklung und als gesellschaftlicher Prozess, werden durch Begegnung mit Literatur konkretisiert, vertieft, gespiegelt, vervielfacht und verzaubert.“ (1)
Dazu kommt das Glück der Aufklärung. Sie hilft uns erkennen, dass wir magisches Bewusstsein nicht leugnen oder verdammen müssen, um als vernünftige Menschen zu gelten. Nein, wir dürfen es genießen, weil wir es im Lichte der Aufklärung besser verstehen, und Gefahren bändigen können, die vom magischen Bewusstsein ausgehen.
(1) Hans-Peter Schwöbel: Licht Ernten. verlag regionalkultur. Seite 61.
Ebenso: Hans-Peter Schwöbel: Kinder des Wortes. Essays. Feuerbaum-Verlag. Seiten 10 bis 29.
Der Schwöbel-BLOG am Samstag, 19. September