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„Die Kinder haben erreicht, wonach sich ihre Eltern und Großeltern sehnten – mehr Freiheit, mehr materiellen Wohlstand, eine gerechtere Gesellschaft; aber die alten Übel sind vergessen, und die Kinder stehen nun vor neuen Problemen, die durch eben jene Lösungen hervorgerufen wurden, die man für die alten gefunden hatte. Und wenn diese ihrerseits gelöst sind, wird wiederum eine neue Situation mit neuen Erfordernissen entstanden sein – und so geht es auf eine nicht vorhersagbare Weise immer weiter.“
(Isaiah Berlin: Das Streben nach dem Ideal. In Das krumme Holz der Humanität. S. Fischer 1992. S. 30. Zitiert bei Steven Pinker: Aufklärung JETZT. S. Fischer 2018. S. 436.
Von Kindern und Jugendlichen kann man nicht erwarten, von sich aus zu diesem tiefgründigen Verständnis historischer Prozesse zu gelangen, wie sie der Soziologe Isaiah Berlin vor dreißig Jahren formuliert hat. Hier tut der Beistand kundiger und selbstbewusster Erwachsener not: Eltern, Großeltern, Lehrer, Professoren, Ausbilder, Journalisten, Politiker, Ökonomen und viele andere, die sich als erfahrene Subjekte nicht selbst aus der Welt schaffen, sondern den Jungen mit Erfahrung und Geistesgegenwart als Widerstand dienen, an dem diese wachsen können.
Die zwischen 1935 und 1955 Geborenen in Deutschland hätten tausend Gründe gehabt, ihren Altvorderen den Fluch „You have stolen my dreams! You have stolen my childhood! How dare you!“ ins Gesicht zu schleudern. Ich zum Beispiel, wurde im November 1945 in ein zerstörtes Land, ein schuldbeladenes Volk und eine kaputte Familie geboren.
Die meisten Deutschen haben das bittere Erbe angenommen und sich der Mühen des Wiederaufbaus, der nationalen Scham, Trauer und Versöhnung, der Demokratisierung, der technologisch-wissenschaftlichen Modernisierung und Produktivitätsentwicklung gestellt. Um einen Satz Goethes zu variieren: Was Du ererbt von Deinen Vätern verwandle, um es zu besitzen - verwandle, um es zu beschützen. Unter dem materiellen und geistigen Schutt fanden wir in den Jahrzehnten nach 1945 wieder die Wurzeln, die die besonderen Kulturen Deutschlands und Europas leuchten lassen bis zum heutigen Tag: Judentum, Griechentum, Rom, Christentum, Aufklärung, Wissenschaft, Kritik, Selbstkritik, Bürgerrechte, Heimatliebe, Nation gestalten (Nationbuilding), Arbeiterbewegung, Demokratisierung.
(Siehe dazu Roger Scruton: Den Westen verteidigen. In derselbe: Bekenntnisse eines Häretikers. Zwölf konservative Streifzüge. Edition Sonderwege 2019. Ein erfrischendes Buch.)
In anderen europäischen Ländern fanden ähnlich positive Prozesse statt. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Deutschland und Europa hätten sich im selbstverschuldeten Elend verstecken können, wie es vielerorts auf der Welt geschieht. In jenem Elend, das zwischen 1933 und 1945 und, unter anderer, ebenso perverser Ideologie, zwischen 1917 und 1989 angerichtet worden war.
Politische und materielle Hilfe von außen war nötig und wurden geboten. Ohne den Willen des deutschen Volkes, der europäischen Völker, geläuterte Kulturen aufzubauen, wäre die neue Renaissance jedoch nicht gelungen. Dabei wurden existenzielle Probleme gelöst, die natürlich neue Probleme schufen, die nun wieder zu lösen sind. So funktioniert Gesellschaft. So bewährt sich Nation. So wächst Geschichte.
Der Schwöbel-BLOG am Samstag 25.01.2019