Festvortrag zur Meisterfeier der Handwerkskammer (hwk) Mannheim-Rhein-Neckar-Odenwald

Rosengarten, Mannheim, Sa, 09. 11. 2013

Geschrieben von Prof. Dr. Hans-Peter Schwöbel


Meine sehr verehrten Damen und Herren,
verehrte Handwerksmeisterinnen und –Handwerksmeister,

ich beglückwünsche Sie zu der Auszeichnung, die Ihnen heute zuteil wird. Sie sind Meisterinnen und Meister in Handwerksberufen, die unserer Gesellschaft Nutzen stiften. Sie haben Herausforderungen bestanden und anspruchsvolle Qualifikationen erworben. Das Wort Meister wächst aus der lateinischen Wurzel Magister. Das heißt: Vorsteher, Leiter, Lehrer. In diesen kostbaren Funktionen für die Gesellschaft begrüße ich Sie.



Vermutlich trifft die Beschreibung Leiter, Lehrer auf viele von Ihnen in Zukunft mehr zu, als für manchen Magister, der an einer Hochschule erworben wurde. Auch deshalb sehe ich keinen Grund, warum Ihr Abschluss formal und im gesellschaftlichen Ansehen hinter einem Hochschulmagister rangieren sollte. Und wir vergessen nicht: Magister, Meister, Lehrer können nur so lange lehren, so lange sie selbst bereit sind, zu lernen. Insofern ist Ihr Meistertitel nicht nur ein Abschluss, son-dern mehr noch ein Anfang.

Wichtige Quelle der menschlichen Entwicklung ist unsere vielfältige Wahrnehmungsfähigkeit. Dazu kommt eine fast grenzenlose Vorstellungkraft, mit der wir uns in die Zukunft versetzen und die Vergangenheit heraufbeschwören können, weit jenseits der Situation, in der wir uns gerade befinden. Diese Vorstellungskraft ermöglicht uns auch, uns ineinander hinein versetzen, sonst könnten wir nichts lehren und nichts lernen. Die dritte Quelle menschlichen Bewusstseins und seiner Vergemeinschaftung ist die Kommunikation mit dem aber wichtigsten Instrument, der Sprache. Nicht weniger bedeutsam aber für die Entwicklung unseres Geistes und unseres Empfindens ist das Werkzeug und sein Gebrauch. Das menschliche Bewusstsein entwickelt sich bis zum heutigen Tag im Wechselspiel zwischen Hirn, Hand, Auge und Wort. Nur so können wir anspruchsvolle Kompetenzen erwerben und weitergeben.

Besonders wichtig sind Werkzeuge und Handwerkskunst seit dem Beginn der Hochkulturen, also jener Kulturen, in denen sich seit etwa siebentausend Jahren Städte entwickeln. In Hochkulturen ist das Handwerk unverzichtbare Grundlage der Zivilisation bis zum heutigen Tag. Handwerkskulturen haben jahrhundertelangen Epochen ihren Stempel aufgedrückt, zusammen mit den Religionen und den Künsten und noch vor den Wissenschaften.

Heute lebt über die Hälfte der Menschheit in Städten mit rasch zunehmender Ten-denz. Ob wir in diesen Städten überleben oder ob die Zivilisationen in ihnen verwahrlosen werden, hängt von vielen Faktoren ab. Ein wichtiger ist sicher die Frage, ob es dem Handwerk gelingt, tatkräftig an der Gestaltung der Städte und ihres Alltags mit-zuwirken. Ich habe mehrfach und über längere Zeit in sogenannten Entwicklungsländern gearbeitet und Forschungsaufenthalte dort verbracht. Was ich am meisten vermisst habe, neben deutschem Brot, deutscher Wurst und deutschem Bier (alles ursprünglich und auch heute noch Produkte von Handwerkskunst), waren funktionie-rende Verwaltungen und leistungsfähige, sich aus sich selbst heraus modernisieren-de Handwerksstrukturen. Was dort oft fehlt, ist eine Arbeiter- und Handwerkerkultur, wie wir sie zum Beispiel in Deutschland haben. Die Lebensqualität bei uns ist hoch, auch und gerade weil die Dinge in aller Regel funktionieren.

Damit komme ich zur kulturellen Bedeutung des Handwerks: Handwerk muss eine hohe Schule der Qualität sein, bleiben und, wo nötig, wieder werden. Manche Fernsehsender steigern Zahl und Begeisterung ihrer Zuschauer, durch konsequentes Senken der Qualität. Handwerker dagegen, die keine Qualität bieten, haben es schwer, ihre Fan-Gemeinde zu vergrößern. Sie stellen entweder Qualität her, oder sie sind ein Ärgernis für Ihre Kunden und die Gesellschaft. So ungerecht kann die Welt sein.

Im Reigen der deutschen Metropolregionen steht die Metropolregion Rhein-Neckar mit Mannheim im Zentrum gut da und weist hervorragende Entwicklungsmöglichkei-ten auf. Wir befinden uns in einer Gründerphase wie seit 130 Jahren nicht mehr. Das gilt in unterschiedlicher Intensität für die gesamte Region. Der große Aufbruch ist unvermeidlich. Die reguläre Finanzausstattung ist, wie fast überall im kommunalen Bereich - bei stetig wachsenden Aufgaben - seit Jahrzehnten ungenügend. Das Ungetane steht hoch, wie in ganz Deutschland (vom Rest der Welt nicht zu reden). Investitionsstaus allenthalben. Um nur einen Grund unter vielen zu nennen: Die tau-senden von Milliarden, die in den letzten Jahren durch Spekulationen und andere Maßnahmen verbrannt wurden, fehlen auch und besonders den Kommunen.

Kommunen und Regionen sind nicht nur Basis der Demokratie, sondern auch des realen Lebensstandards und müssen an Entscheidungen, die sie selbst betreffen, stärker beteiligt werden. Und wir müssen für bessere Finanzausstattung unserer Kommunen und der Metropolregion Rhein-Neckar kämpfen. Ja, die Metropolregion Rhein-Neckar würde durch solchen Schulterschluss erst richtig entstehen. Das Handwerk kann sich mehr als andere produktiv in die verschiedenen Projekte einbringen, weil sich das Ungetane in Aufträge verwandeln muss. Um so wichtiger ist, mit Projekten auch Geld an Land zu ziehen.

Wenn ich mich als Autoschlosser und Sozialwissenschaftler frage, was denn die gemeinsamen unmittelbar praktischen Grundkompetenzen vieler Handwerksberufe sind, so komme ich auf die Genauigkeit als dem Zentrum der Qualität. Die Genauigkeit ist die Grundtugend des Handwerks. Zwischen Genauigkeit und Funktionieren bestehen enge Zusammenhänge. Und: Genauigkeit erzeugt eine eigene Form von Schönheit. Mein erstes Lehrjahr als Autoschlosser habe ich in der Autofachschule verbracht, deren Werkstatt damals noch in C6 war. Ich erinnere mich noch gut, wie der Meister sein Haarlineal über meine U-Schiene, meinen Schwalbenschwanz oder meine Abziehvorrichtung legte und ausrief: „Schwöbel, do hinne siehsch jo die Schdrooßebohn fahre!"; oder: „Schwöbel, do konnsch jo ä Batschkabb durschschmeiße!" Dabei betrug die Abweichung viel weniger als ein Zehntel Millimeter. Aber, vielleicht trug diese bildhafte Kritik dazu bei, dass ich am Ende der Lehre meine Gesellenprüfung mit einem Preis abschließen konnte.

Deshalb wünsche ich Ihnen, liebe Meisterinnen und Meister, dass auch Sie die Ge-nauigkeit pflegen und weitergeben, und sich durch mürrische Reaktionen nicht einschüchtern zu lassen. Die Tugend Genauigkeit ist durchaus in Gefahr als kostbares Kulturgut verloren zu gehen. Die Zahl derer, die sie als spießig empfinden, oder einfach nicht dazu fähig sind, scheint zuzunehmen.

Dennoch besteht auch Grund zur Zuversicht. Gesellschaftliche Entwicklungen ver-laufen fast immer widersprüchlich. Wir können beobachten, dass die Tugenden Prägnanz, Qualität und Genauigkeit, sich in Feldern ausbreiten, die scheinbar nichts mit dem Handwerk zu tun haben. Kürzlich habe ich ein Interview mit der Kanadierin Sue Gardner gelesen, der Chefin des Internet-Lexikons Wikipedia. Wie sie berichtet, gibt es Wikipedia inzwischen in 280 Sprachen. Auf die Frage, welche Sprachversion die Beste sei, sagte sie, die deutsche. Diese sei umfangreich, detailliert und dazu sehr akkurat. Die in Jahrhunderten entwickelten Handwerkertugenden lassen grüßen.

Der große Karl Marx kann uns helfen, dies zu verstehen. Er sagt: Ideen, Tugenden, Eigenschaften und Fähigkeiten, werden zur objektiven Realität, zu einer gesellschaftlichen Tatsache, wenn viele Menschen sie teilen. Das ist das Geheimnis von Kultur. Was viele Menschen verinnerlicht, also tief in ihre Persönlichkeit aufgenommen haben, liegt gleichermaßen als Kulturgut zwischen uns und verbindet uns in besonderer Weise. Selbst Völker und Gemeinschaften, denen Ausrottung angesonnen war, haben nach den Verfolgungen, trotz stark reduzierter Zahl an Menschen, ihre Kultur in die Zeit danach oder in ein anderes Land retten können, um sie weiter zu pflegen. Darauf weise ich gerade heute, am 09. November, hin.

Neben der wichtigsten praktischen Kernkompetenz, der Genauigkeit, lese ich, auch im Handwerk seien softskills wichtig. Aha! Ich bitte um Vergebung, dass ich in Fra-gen der Sprache konservativ reagiere. Ich spreche am liebsten Deutsch, auch wenn ich des Englischen mächtig bin, leider nicht des Türkischen, Italienischen, Spanischen oder Serbo-Kroatischen, was ich als Mangel empfinde. Wenn es um die fragli-chen Fähigkeiten geht, die ich auch im Deutschen nicht mit dem Wort weiche Kompetenzen schwächen würde, so rede ich von: Verantwortungsbewusstsein, Eigen-ständigkeit, Mut, Anstand, Zuverlässigkeit, Führungskompetenz, Freundlichkeit, Fes-tigkeit und Klarheit gegenüber Kunden und Mitarbeitern. Man könnte noch viele an-führen.

Gestatten Sie, dass ich Ihnen nur eine dieser Qualitäten besonders an Herz lege, nämlich die Allgemeinbildung. Allgemeinbildung im Sinne von Sprachkompetenz in Ihrer Muttersprache, Ihren Muttersprachen und Streben nach geistiger Eigenständigkeit. In allen Erziehungs- und Bildungsstufen von der Kinder-Krippe bis in die letzten Verästelungen der Bildung von Erwachsenen müssen Hauptlernziele sein: Verantwortungsbereitschaft und geistige Eigenständigkeit. Dazu tragen Sprach- und Denk-vermögen bei, aber auch die Befassung mit berufsspezifischen, politischen, ökono-mischen und gesellschaftlichen Entwicklungen.

Man sagt, jedes Volk habe die Regierung und die Politik, die es verdient. Das bedeutet, wir können den Zustand Europas, Deutschlands, der Kurpfalz und Mannheims nicht einfach Politikern in die Schuhe schieben. Nicht: die sind an allem Schuld, sondern, wir alle sind mitverantwortlich für den Zustand unseres Gemeinwesens.

Demokratie und die Verteidigung der Menschenwürde geschehen nie von selbst, sondern müssen jeden Tag ins Werk gesetzt werden, besonders an unseren Ar-beitsplätzen und in der öffentlichen Debatte. Niemals dürfen wir anderen erlauben, uns geistig zu beherrschen und für ihre Zwecke einzuspannen. Und niemals dürfen wir Verletzungen der Menschenwürde dulden und der Verrohung der Debatte Vorschub leisten. Auch das zum 09. November.

Meine Damen und Herren, ich schließe diesen Teil meines Beitrags mit einer Bekräftigung meines Glückwunsches an Sie liebe Meisterinnen und Meister, an Ihre Familien und an ihre Betriebe. Vielen Dank!

© Prof. Dr. Hans-Peter Schwöbel
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09. November 2013

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