"Die Welt wird nie mehr sein, was sie war, nachdem sie um ein gutes Gedicht ver-mehrt worden ist. Ein gutes Gedicht trägt dazu bei, Form und Bedeutung des Universums zu verändern, und hilft jedem, seine Kenntnis von sich und der Welt zu erweitern."
Diese Äußerung stammt von dem Waliser Poeten und Säufer Dylan (dy = groß(artig); llanw = Meer) Thomas, jenem Dichter, dessen Vorname ein gewisser Robert Zimmermann zu seinem Künstlernamen erwählte: Bob Dylan.
Gut zu wissen, dass Dylan Thomas ein Säufer war.
So können wir seinen größen-wahnsinnigen Satz als Ausdruck eines Deliriums von uns weisen. Viel häufiger hören wir doch das Gegenteil, gerade von Künstlern: „Kunst kann die Welt nicht verändern." „Kunst bewirkt nichts!" „Literatur bewirkt nichts!"
Wem sollen wir Glauben schenken, dem Poeten und Säufer oder den nüchternen ‚Realisten'?
Der jüdisch-rumänisch-amerikanische Nobelpreisträger Elie Wiesel schreibt über seine erste Begegnung mit der Bibel: "Mein erster Lehrer, der Batiser Rebbe, ein sanftmütiger Greis... brachte uns die Buchstaben des Alphabets bei und sagte: >>Kinder, hier habt ihr den Anfang und das Ende aller Dinge. Tausend und aber-tausend Werke sind mit diesen Buchstaben geschrieben worden oder werden noch damit geschrieben. Seht sie euch gut an, lernt sie mit Hingabe: Sie werden eure Schlüssel zum Leben sein. Und der Schlüssel zur Ewigkeit.<<
Elie Wiesel fährt fort: „Als ich das erste Wort las, Bereschit (im Anfang), hatte ich das Gefühl, in ein fremdes Universum einzutreten, verzaubert zu werden. Als ich den Sinn des ersten Verses erfasste, überkam mich ein unbändiges und unbe-kanntes Glück. >>Gott schuf die Welt mit den zweiundzwanzig Buchstaben des Alphabets<<, lehrte der alte Rebbe..., >>Geht achtsam damit um, dann werden sie auf euch achtgeben. Sie werden euch überallhin begleiten. Sie werden euch zum Lachen und zum Weinen bringen. Besser gesagt: Sie werden weinen, wenn ihr weint, und sie werden lachen, wenn ihr lacht. Und wenn ihr fleißig seid, werden sie euch den Weg zu den verborgenen Heiligtümern eröffnen; dort wird alles zu...<< "Diesen Satz hat der Batiser Rebbe nie beendet. Dort wird alles zu...? ...Staub? ...Wahrheit? ...Liebe? ...Leben?" (Elie Wiesel, Zitatende)
Magie, Aufklärung, Welt als Konstrukt
Was der Batiser Rebbe seinen Kindern gelernt hat, entspricht moderner Erkennt-nistheorie: Die Welt als Konstrukt, als Wirklichkeit in unseren Köpfen und Kulturen, gespeist von den Quellen Wahrnehmung, Phantasie und Kommunikation. „Im An-fang ist das Wort..." Dies ist die Welt der Menschen.
Mit den magischen, imaginierenden Erfahrungen unserer Kindheit (andere sind uns zunächst nicht möglich) entstehen Grundmuster von Sprache, Schrift, Musik, Glaube, Wissen, Empfinden, ohne die alles bedeutungslos bleibt. Erziehung, Sozi-alisation und die Neugier des Kindes, später Jugendlichen, Erwachsenen, ent-scheiden darüber, wie dieser Bedeutungshorizont gefüllt wird mit Raum-Zeit-Beziehungen, Gerüchen, Geräuschen, Licht-Schatten- und Gestalterfahrungen, Wärme-Kälte-Erlebnissen, Menschenbildern, Rhythmen, Farben, Strukturen, Erin-nerungen und Erwartungen, Ängsten und Sehnsüchten - und damit über Viel-schichtigkeit, Tiefe und Erlebnismöglichkeiten unserer Persönlichkeit.
Offenkundig kommt dem Vorhandensein und Nichtvorhandensein (als realem Mangel) von Literatur dabei große Bedeutung zu. Zu diesem Fundus gehört auch die sogenannte orale Literatur, also jene, die mündlich überliefert, erzählt und vor-gespielt wird.
Literatur wirkt
Meine Damen und Herren, Sie merken, ich schlage mich auf die Seite des Säufers und Poeten und widerspreche den ‚Realisten'. Die Wirkungslosigkeit von Kunst im Allgemeinen und von Literatur und Musik im Besonderen zu beklagen, ist eitel. Wenn es nach dem Kriege so etwas wie eine tatsächliche Entnazifizierung in Deutschland und Europa gegeben hat, dann nicht als Ergebnis hilfloser Versuche der Siegermächte, sondern durch die Arbeit von tausenden von Schriftstellern, Filmemachern, Liedermachern, Theatergruppen, Kabarettisten, Künstlern, Päda-gogen, Pfarrern, Journalisten und anderen. Wenn Pädagogen am demokratischen Bewusstsein ihrer kindlichen, jugendlichen oder erwachsenen Lernenden arbeiten, benutzen sie häufig Werke aus Film und Literatur.
Kunst wirkt! Besonders, wenn sie den Menschen so hinreißend nahegebracht wird, wie bei den Auftritten Arnim Töpels, in seinen CDs und seinem Buch. Wer sich und andere Hören, Sehen, Lesen, Fühlen, Empfinden, Entdecken, Phantasieren, und Denken lernt, beeinflusst die Zentren unserer Persönlichkeits- und Kulturentwick-lung und verändert damit die Welt.
Endsiege gibt es nicht - auch nicht gegen die Barbarei
Die großen Barbareien, wie die SCHOA, der Archipel GULAG und die vielen histo-rischen und aktuellen KILLING FIELDS auf der Welt werden oft als 'Beweise' für die Unwirksamkeit von Literatur und anderer Kunst angeführt.
Gerade in den dunklen Kapiteln der Geschichte lese ich das Gegenteil von Nutzlo-sigkeit der Kunst. Die Organisatoren des Grauens, die Mitläufer und unmittelbaren Täter von Auschwitz bis zu den Totschlägern und Massenmördern unserer Tage, weisen als gemeinsame 'kulturelle Krankheit' eine unüberwindliche Distanz zu Lite-ratur, Musik, Kunst, Glaube, Wissenschaft und anderen geistigen Prozessen auf. Sie zeigen, was aus uns wird, wenn wir nicht auch an den Künsten wachsen und reifen.
Im Nationalsozialismus wie im Stalinismus, im Maoismus wie in den verschiedenen religiösen Fundamentalismen, gibt es keine Künstler und keine Kunst, außer im Untergrund, in Lagern oder auf der Flucht. Gesellschaften ohne Literatur vegetie-ren mit herausgerissener Zunge und abgeschlagenen Armen.
Den Endsieg des Guten über das Böse gibt es nicht in der Geschichte der Men-schen, auch nicht mit den Mitteln der Kunst. Den Endsieg gegen Oberflächlichkeit, Verführbarkeit, Gleichgültigkeit, Fanatismus, Dummheit und Barbarei gibt es zu keiner Zeit und in keinem System. Sie sind als Risiko unsere Begleiter, solange es Menschen gibt. Aber es gibt keine anderen Kräfte als die des Glaubens, der Kunst, der Philosophie, der Wissenschaft und der Demokratie, um sie im Zaum zu halten und eine humane Zivilisation zu entwickeln.
Allerdings muss man der Illusion entraten, jemals etwas bewirkt zu haben im Sinne von: jetzt haben wir Frieden, haben wir Demokratie, haben wir Emanzipation. ‚Ha-ben' tun wir gar nichts, außer den nächsten Gefahren und Chancen, an uns zu scheitern oder uns zu glücken. Menschwerdung und Aufrechter Gang gelingen und scheitern täglich seit Adam und Eva.
Arnim - kleiner fliegender Adler
Poesie verzaubert und klärt auf gleichermaßen. Wir haben heute die Ehre und Freude, einen großen Poeten auszuzeichnen. Abermals, darf ich das sagen? – abermals hat die Jury eine sehr gute Entscheidung getroffen und den Richtigen gefunden. Arnim, der Name bedeutet ‚kleiner, fliegender Adler', ist ein Künstler, der unsere Sinne, Köpfe und Herzen erreicht. In Pressebesprechungen seiner Auftritte kommt er oft als „Philosoph unter den Kabarettisten" vor.
Philosoph ja, denn er liebt Weisheit, schafft Weisheit. Weniger passt das Wort Ka-barettist. Sein Werk ist viel musikalischer und poetischer als das, was wir Land auf, Land ab unter der Überschrift ‚Kabarett' geboten bekommen. Die Zuschreibung „Blues-Denker" trifft es schon besser. Arnim Töpel ist Schriftsteller und Komponist, er ist Sänger und Pianist. Und er ist ein geistreicher Erzähler und Unterhalter.
Arnim Töpel ist Poet in allem, was er hervorbringt. Unter Poesie verstehe ich keine Literaturgattung, sondern einen Komplex von Qualitäten, die Bildnisse, Sprache, Musik, Film, Tanz, soziale Arrangements, Gesten, Speisen... aufweisen können. Poesie: luzide, dicht, vibrierend, exakt, leicht, sinnlich, löst Assoziationen aus. Po-esie ist ein feines Gewebe aus Kraft und Strenge, Zärtlichkeit und Können. Poesie kann warm und dunkel sein und scharf und hell, wie ein Skalpell.
Der Volksmund sagt: Der Ton macht die Musik. Ist es aber nicht eher so, dass die Beziehungen zwischen den Tönen die Musik machen? So dass man versucht sein könnte zu sagen: Was nicht Ton ist, macht die Musik, was zwischen den Zeilen steht, macht die Literatur. Kunst, Glaube, Philosophie, Wissenschaft und Alltags-gewohnheiten haben gemeinsam, dass sie Beziehungen gestalten. Das macht das Verstehen manchmal schwierig. Wirklich alphabetisiert und enkulturiert sind wir nur soweit, soweit wir Beziehungen verstehen und gestalten können.
Arnim Töpels Gedichte und Lieder, Melodien und Geschichten sind nicht hermetisch, sondern gut zugänglich, ohne trivial zu sein. Er schreibt und komponiert, lauscht, denkt und musiziert, er spielt, trägt vor und entzückt uns.
Meinem Freund Arnim ist sogar das kleine Wunder gelungen, meine Distanz zum Klavier zu überwinden. Alles Musikalische, ob Gesang, Instrument oder gespro-chenes Wort, erlebe ich sehr in den Spannungsfeldern Warm-Kalt, Rau-Glatt, Roh-Gekocht. Bis zur Begegnung mit Arnim empfand ich das Klavier oft als kaltes, glat-tes Medium. Mich zieht es mehr zur rauen Wärme von Saxophon und handge-schlagener Trommel, zur weichen Wärme von Flöten, Harfen, Zithern und ande-ren. Eines Tages schenkte mir Arnims CD ‚Nordsee-Blues' ein tiefes Erlebnis. Auf der CD sind ausschließlich zu hören: Piano, Möwen, Wind, Meer.
Das Meer atmet, atmet, atmet, Möwen wetzen Windsicheln über der Gischt. Aus dem Atem des Meeres lösen sich melancholische Gedanken, warm, weich, piano. Auch helle Töne ahnen das Dunkel, und dunkler Klang leuchtet im Morgenlicht, im Abendlicht: Bernstein, vom Meer an die Küste gespielt. Blues steigt auf aus nördli-chem Licht.
Auch bei seinen Auftritten kann ich mit eigenen Augen sehen, wie die Klänge des Klaviers ernst und heiter einer nach dem anderen durch den Saal purzeln, schwe-ben, verharren, auf den nächsten Ton warten oder auf das Verklingen. Und schaut, dort fliegt ein Schwarm Vögel, in den Himmel, gesät mit leichter Hand und breitem Wurf...
Arnim Töpel ist ein Meister der weißen Magie, die Schutz und Heilung bietet. Seine Kunst umarmt den Menschen und richtet ihn auf gegen die Zyniker der schwarzen Magie unserer Tage: Die Hinters-Licht-Führer, Seelenverkäufer, Beutelschneider, die Kalauerer und Zotenreißer, die, tausendfach geklont, den Götzen Macht und Money dienen, gerade in den Unterhaltungsindustrien.
Töpels Werk spannt sich von purer Musik über Lieder, Gedichte, Erzählungen, es-sayistischen und aphoristischen Texten auf der Bühne bis zum Kriminalroman ‚De Schorle-Peda', wo er uulängscht vaeffentlicht hodd.
In dem Roman machta uns die Freed, de Kommissar zum Dialektschbrescha zu mache, un nädd irgend än Honnebombl. Obwohl: Honnebombl gibt's beim Arnim sowieso nädd. Wonn der Intellektuelle Arnim Töpel, mol in Vasuchung kumme deed, iwwa änna zu denke, Du Honnebombl, odda iwwa änni, Du Blunz, fallt'm de Günda in den Gedonke, wo de Arnim noch gar nädd gedenkt hodd, un sacht: „Ar-min, losses, Du weesch doch, wie die Leit sin. Sie gewwe sisch jo Mieh."
Dies gehört zu den Gaben, die wir heute auszeichnen: Arnim Töpel ist ein starker im Geiste, vergibt aber in den meisten Fällen denen, die im Geiste stark schwächeln.
De Kommisar Günda is än gscheida Kerl. Trotzdäm klingt ulgisch, wasa sacht, awwa ohne dasses soi Autorität als Chef unnagrawe duud. Wie mir wisse, is de Arnim Töpel jo kän Dialektschbrescha vun dehääm aus. Er hodd unsan Dialekt als zweddi odda driddi Schbrooch gelernt, awwa moin liewa Scholli: Schbresche, Den-ke un Schreiwe – fließend! Im Krimi ‚Schorle-Peda' vazehlda die Gschischt uff Hochdaitsch. Wonn geredd wärrd, schbresche de Kommissar un ä paar onnare Figure Dialekt. Monsche vasuche ihrn Dialekt zu vaschdeggle. Des is donn bsonnas ulgisch. Awwa de Arnim liebt aa die, wo mit sisch selwa Vaschdeggales spiele.
De Arnim Töpel erfasst nädd bloß die Wörda, Grammatik un Syntax, die Melodie un Rythme vun unsarm Pälza Dialekt, sondern aa unsa spezielli Mentalität. Er er-weist sisch als begabter Ethnologe. Selten sin die Rhoifronke, speziell die Pälza, so gut getroffe worre.
Wie ist es möglich, dass einer mit Berliner Hintergrund, sich so in rheinfränkische Sprech- und Erlebnismuster einfühlen kann. Es ist wohl seine tiefe Musikalität, die ihn in die pfälzischen Sprechgesänge gleiten ließ. Und: ein starker Wesenszug bei Arnim Töpel ist die Empathie, das Vermögen, sich in andere Menschen einzufüh-len. Vielleicht ist die Empathie ja selbst eine musikalische Begabung.
Ich komme zur Verwandtschaft zwischen Hermann Sinsheimer und Arnim Töpel. Sinsheimer faszinierte als Bub seine Entdeckung, dass die Juden, und damit auch er, von weit her gekommen waren, aber ebenso tiefe Wurzeln in die Pfälzer Erde getrieben hatten, wie der Wein, der mit ihnen und den Römern eingewandert ist. Er glaubte sogar an die tiefe innere Verwandtschaft zwischen den Heimatwörtern Pa-lästina und Palatina.
Arnim Töpels Verwurzelung in der Kurpfalz ist jünger als die Hermann Sinsheimers und dessen Vorfahren, aber nicht weniger produktiv. Beide sind in der Sprache mächtig. Beide sind Weltbürger und bodenständig. Sie sind Aufklärer und bewah-ren die Geheimnisse und Mythen, die wir zum Leben brauchen. Die tiefste Verbin-dung zwischen Hermann Sinsheimer und Arnim Töpel aber ist: sie lieben die Menschen, notfalls gegen alle Erfahrung.
Prof. Dr. Hans-Peter Schwöbel
Mannheim / Freinsheim
30.03.2014