Geschrieben von Prof. Dr. Hans-Peter Schwöbel
In Deutschland ist oft zu hören, die wichtigsten Quellen unserer Wohlfahrt seien un-sere Köpfe, da wir nur in geringem Maße über materielle Ressourcen, wie Öl, Gas und andere Rohstoffe, verfügen. Individuelle und gemeinschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten, Lebensqualität und Positionen in den weltweiten Produktions- und Verteilungsprozessen hängen von unseren geistigen Möglichkeiten und Grenzen ab.
Worauf kommt es aber bei unseren geistigen Fähigkeiten besonders an? Der Philo-soph Karl Popper sagt: „Alles Leben ist Problemlösen." Damit hat er nicht nur die Evolutionstheorie von Charles Darwin auf den Punkt gebracht, sondern auch die Wohlfahrts- bzw. Verelendungsdynamiken menschlicher Gesellschaft: Nicht der Stärkste, Schnellste, Härteste, Brutalste, Größte, auch nicht einfach der Intelligente-ste, behauptet sich in der natürlichen und kulturellen Auslese, sondern der, der am besten die Probleme lösen kann, in die er und sein Umfeld gestellt sind. Überlebens- und Entwicklungschancen von Individuen und Gemeinschaften hängen also von ihrer Fähigkeit ab, Probleme zu lösen. Probleme sind Schwierigkeiten und Aufgaben, die mit herkömmlichen Verfahren und Instrumenten nicht bewältigt werden können.
Entscheidende Komponente beim Problemlösen ist die Kreativität, das schöpferische Vermögen, neue Lösungen zu suchen und Antworten zu finden. Grundlagen menschlicher Kreativität sind Bildung und Begabung, Intelligenz und Einfühlungs-vermögen, Neugierde und Mut. Ebenso wichtig: eine Tendenz zur Unzufriedenheit mit Vorgefasstem und Vorgefundenem, Lust am Erforschen, Tüfteln, Ausprobieren. Und nicht hoch genug einschätzen kann man die positive Wirkung von Lob und Er-mutigung für kreatives Verhalten durch Bezugspersonen und Gemeinschaft.
Soll das Kreative nicht Eintagsfliege bleiben im Leben eines Menschen, braucht es Stetigkeit, Ausdauer und Fleiß im Gebrauch kreativer Praktiken und Übung. Kreativi-tät braucht Routine. Die Verbindung zwischen diesen scheinbar widerstreitenden Bewältigungsmustern herzustellen, ist wichtiger Auftrag familiärer und öffentlicher Bildung.
Für die Gesellschaft ergibt sich die Aufgabe, Kreativität zu fördern, nicht zu unter-drücken. Alle Bildungsanstrengungen müssen auf Persönlichkeitsleitbilder hinarbei-ten, in denen der Kreativität zentrale Bedeutung zukommt. Vorraussetzung dafür sind Toleranz und Fehlerfreundlichkeit. Wo Neues versucht werden soll, müssen Fehler gemacht werden dürfen. Anders kann das Neue nicht zur Welt kommen. Gleichzeitig dürfen wir es uns aber in unseren Fehlern nicht gemütlich machen. Sie müssen Stachel sein im Fleisch und uns anspornen, immer wieder Korrekturen an uns selbst und unseren Vorgehensweisen vorzunehmen.
Bildungsreformen, die dem Anspruch auf Kreativität entgegenwirken, schaden den Menschen und verursachen der Allgemeinheit hohe Kosten. Zu Recht wird seit Jah-ren kritisiert, dass viele „Reformen" unserer Gymnasien (G8!) und Hochschulen eher der Anpassung an vermeintliche Markt- und Produktionszwänge durch Standardisie-rung, Beschleunigung und Nivellierung dienen (Stichwort: Bologna-Prozess) als der Heranbildung selbstbewusster, kreativer Persönlichkeiten.
Wo es um Persönlichkeitsentwicklung geht, spielt der Faktor Zeit, das Moment der Reifung, eine wesentliche Rolle; denn die entsprechenden Inhalte und Lernziele können nicht „beigebracht" werden. Der einzelne Mensch und kleine Gruppen müs-sen sie, mit Unterstützung von außen, selbst entfalten. Hierin bestehen die Last und das Glück emanzipatorischer Persönlichkeits- und Gemeinschaftsentwicklung. Des-halb misstraue ich ‚Reformen', die auf schiere Beschleunigung setzen. Alle Kosten und alle Zeit, die in die Entfaltung kreativer Kompetenz von Individuen und Gemein-schaften gesteckt werden, amortisieren sich zuverlässig in Form von Problemlö-sungsvermögen und Lebenszufriedenheit der Menschen.
Bildung zur schöpferischen Begabung muss musischen, kommunikativen und hand-werklichen Lernzielkomplexen hohen Stellenwert einräumen; denn Kreativität und Problemlösungskompetenz sind keine rein intellektuellen Fähigkeiten. Sie weisen starke sensorische, motivationale, motorische, emotionale und moralische Aspekte auf. Vom Einzelnen muss erwartet werden, dass er sein kreatives Potential zum Wohle der Gemeinschaft einsetzt, nicht zu ihrem Schaden.
Vielfalt ist die Mutter der Kreativität, nicht Einfalt. Wo Differenz schwindet zugunsten von Monokultur, schwindet das Problemlösungspotential der betreffenden Gesell-schaften. Aus diesem Grunde waren und sind die dynamischsten Hochkulturen mit dem größten Problemlösungspotential multikulturelle Gesellschaften, solange es ge-lingt, die Unterschiede in Respekt voreinander friedlich zu leben. Multikulturell im Sinne des produktiven Neben- und Miteinanders verschiedener Sprachen, Glau-bensbekenntnisse, ethnischer Zugehörigkeit und Alltagskulturen. Genau deshalb ha-ben fundamentalistische, bornierte, intolerante Gesellschaften keine Zukunft – und keine Gegenwart.
Prof. Dr. Hans-Peter SchwöbelKreativität als RessourceNaturarztMai 2012, S. 54
ISSN-0720-826-X
www.naturarzt-access.de