Genaue Betrachtung lässt uns die Illusion erkennen.
Kinder kommen ihren Eltern nicht entgegen, sondern aus ihnen hervor. Das Vergehende erzeugt das Werdende. Die blutende Wunde zwischen dem Vergehenden und dem Werdenden ist die immerwährende Gegenwart. Das Künftige kommt also nicht von vorne auf uns zu. Daher ist die Aufforderung, „den Blick nach vorne zu richten“ Nonsens. Nicht zufällig hören wir diesen Satz oft von Politikern, Managern und Administratoren, wenn Kritik an Ihren Entscheidungen und ihrem bisherigem Verhalten ungemütlich wird. Der „Blick nach vorn“, soll von der Betrachtung und Analyse des bisher Geschehenen ablenken.
Was aus uns wurde und weiter werden kann, ist stark bestimmt von dem, was wir in den letzten Jahrzehnten getan und unterlassen haben, worauf wir unsere Aufmerksamkeit gerichtet und was wir übersehen, ignoriert oder verdrängt haben. Dabei fallen unsere Unterlassungen genau so ins Gewicht wie unser Handeln. Das Ungetane hat reale Wirkungen, wie das Getane.
Seit der Entwicklung des Internets haben sich unsere Kommunikationskanäle vervielfacht. Dabei entstanden neben den alten neue regionale, nationale und globale Informations-Supermächte. Trotz (und wegen) der Individualisierung von Massenkommunikation entscheiden immer kleinere Gruppen für immer mehr Menschen über Inhalt und Vermittlung von Information. Das Dringende (als dringlich Dargestellte) verdrängt das Wichtige. Nur noch was fuchtelt und brüllt und laut auf jede Pauke haut, erntet Aufmerksamkeit – für Tage, Stunden, Sekunden. Dann wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Stilles Gelingen, aber auch leise Gefahren nehmen wir kaum mehr wahr.
Seit Jahren vollzieht sich auch bei uns ein rasantes Artensterben, besonders Insekten und Vögel verschwinden fast unbemerkt. Hat da was gesummt? Hat da was gezwitschert? Während wir auf kleine Bildschirme starren, Bässe dröhnen und Motoren brummen, überhören wir, wie Hummel, Käfer und Bienen verstummen. Rar wird der Schlag der Nachtigall und der Tanz der Schmetterlinge. War da was? Stirb lauter, Hummel!
WOCHENBLATT Mannheim
29. Juni 2017