Intoleranz? Vorurteil?

Der Kampf um die Deutungen politischen Geschehens in Deutschland, Europa und der Welt wird hart geführt. In Deutschland hat sich eine Meinungsführerschaft durchgesetzt, die andere Positionen mit den Totschlagargumenten „Vorurteil!“ „Intoleranz!“ niederknüppelt. Menschen, die den Koran nicht gelesen und sich nicht mit Geschichte und aktuellen Zuständen islamischer Kulturen befasst haben, heulen auf, wenn Kritik am Koran und am Islam geübt wird. Routiniert mahnen sie ‚Toleranz’ an, verdammen ‚Vorurteile’ und ‚Pauschalisierungen’ und rühmen den ‚Dialog’.

Die Erlebnis- und Handlungsmuster Toleranz/Intoleranz, Urteil/Vorurteil und Dialog werden zunehmend missbraucht. Sie erfahren Bedeutungsverschiebungen in ihr Gegenteil. Motto: Wer meinen Standpunkt nicht teilt, ist intolerant und hat Vorurteile! Es ist Zeit, George Orwells Roman ‚1984’ wieder zu lesen. ‚Dialoge’, die der Vermeidung kritischer Analyse und Debatte dienen, sind gefährlich und einer Kultur der Aufklärung unwürdig. Gedankenlos oder absichtlich werden die Unterschiede zwischen Vorurteil und Vorbehalt bzw. Ablehnung verwischt. Beispiel: ich fälle keine Vor-Urteile gegen Faschismus, Stalinismus, Islamismus und andere inhumane, totalitäre Machtstrukturen. Vielmehr lehne ich sie ab. Ich toleriere sie nicht – gerade weil ich mich seit Jahrzehnten intensiv mit diesen schweren gesellschaftlichen Deformationen befasse. Nie würde ich sagen, Faschismus und Stalinismus gehören zu Deutschland und Europa – obgleich diese Ideologien in Deutschland und Europa entstanden sind und es auch heute noch und wieder Faschisten und Stalinisten gibt. Dies ist aber kein Grund, sie als kulturelles Erbe willkommen zu heißen, wie wir Judentum, Christentum und vor allem die Aufklärung als unser geistiges Vermächtnis verstehen. Ebenso wenig müssen und dürfen wir anderen anti-demokratischen Kräften Heimstatt bieten.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch das Christentum war über Jahrhunderte eine Geißel der Menschheit: Judenverfolgungen, Inquisition, Religionskriege, Kolonialismus, Unterdrückung von Anders- und Nicht-Gläubigen, Unterdrückung von Frauen, Fragen und Kritik. Bereits mit der Bibelübersetzung durch Luther und andere trat aber emanzipatorisches Potential der Bibel zu Tage. Kein Zufall, dass Immanuel Kant und andere Aufklärer protestantischen oder jüdischen Elternhäusern entstammen. Und: die großen christlichen Kirchen versöhnen sich seit Jahrzehnten zunehmend mit unserem wichtigsten geistigen Schatz, eben der Aufklärung - sie humanisieren sich. Dies ist unser (bedrohtes) Erbe, das wir pflegen und verteidigen müssen.

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